Leidenschaft für die Wahrheit

Plinio Corrêa de Oliveira

Im Folgenden geben wir einen Brief von Plinio Corrêa de Oliveira mit Ratschlägen zum geistigen Leben an einen jungen Mitarbeiter wieder. Diese Ratschläge können mutatis mutandis für alle nützlich sein, die für die Verteidigung der Wahrheit kämpfen.

 

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Mein Lieber Freund,

ich habe den Brief, den Du mir geschickt hast, mit großer Anteilnahme gelesen.

Nimm es mir nicht übel, wenn ich dir sage, dass ich mir ein Lächeln nicht verkneifen konnte, als ich las, dass du ein Mann wie ich werden wolltest. Ich versichere Dir in aller Aufrichtigkeit, dass Du davon nichts haben werdest, ganz im Gegenteil. Wenn ich Dir etwas Gutes wünschen kann, dann, dass dies nicht geschieht. Außerdem hat jeder von uns eine einzigartige und unverwechselbare Persönlichkeit und ist von Gott berufen, sein eigenes Ideal der Vollkommenheit zu erreichen. Von uns wird die Treue zur Wahrheit verlangt, die in uns ist, und dies ist für uns alle der einzige Weg, die Wahrheit zu erlangen.

Nur die Leidenschaft für die Wahrheit rechtfertigt die Existenz von Philosophen und Schriftstellern

Apropos Wahrheit: Hier kommen wir zum entscheidenden Punkt all dessen, was Du mir in Deinem Brief mitteilst. Die Welt ist voll von Philosophen und Schriftstellern, aber es gibt nur eine Sache, die ihre Existenz rechtfertigt: die Leidenschaft für die Wahrheit. Ohne diese Leidenschaft sind Bücher und Philosophien nichts als Eitelkeiten, sehr gefährliche Eitelkeiten, die das Feuer auf der Erde entzünden und die Flammen der Hölle anfachen.

Wer die Leidenschaft für die Wahrheit hat, ist bereit, sich ohne jede Einschränkung zu entäußern. Er wird die verführerischsten Ideen, die raffiniertesten Systeme, die tiefsten und leuchtendsten Erklärungen, die wertvollsten Intuitionen, die höchsten Befriedigungen der Intelligenz und schließlich die fesselndsten Formulierungen und die ästhetisch glücklichsten Bilder opfern, um streng die Wahrheit zu suchen und zu offenbaren, nur die Wahrheit, die für unseren menschlichen Zustand immer schwer ist, weil sie wesentlich transzendent ist.

Wer die Leidenschaft für die Wahrheit besitzt, setzt sich der Antipathie der Menschen aus

Und nicht nur das. Die Wahrheit wurde nie von den Menschen hochgeschätzt, sie wird in unseren Tagen geradezu verachtet. Die Wahrheit ist eine und unveränderlich, aber die Menschen lieben das bunte Spektakel der aufeinanderfolgenden Scheinbilder; die Wahrheit ist ewig, aber die Menschen folgen den Moden; die Wahrheit ist ernst, und die Menschen sind frivol; die Wahrheit weist auf die Pflicht hin, während die Menschen Vergnügungen suchen; schließlich ist die Wahrheit hart, und die Menschen haben kein Schneid.

Wer also die Leidenschaft für die Wahrheit hat, setzt sich notwendigerweise der Antipathie der Menschen aus, aber er wird die Wahrheit den zeitlichen Gütern, der Karriere, dem Ruhm und dem eigenen Ansehen vorziehen. Er wird von denjenigen verfolgt und angeklagt werden, die die Wahrheit prostituieren, indem sie sie zu einem einfachen Instrument ihrer Einbildung und Gier machen.

Aber das ist noch nicht alles. Die Leidenschaft für die Wahrheit kann ihn dazu bringen, jahrelang zu schweigen, während andere sich mit ihren literarischen und philosophischen Werken vor den Augen der Öffentlichkeit und der Kritik profilieren. Er wird jedoch schweigen, bis der einzige Grund auftaucht, der ihn dazu bringt, sich zu offenbaren: um Zeugnis für die Wahrheit zu geben.

Angesichts dessen, was ich soeben gesagt habe, könntest Du erwidern, dass ich nicht den Weg der Philosophie, sondern den der Heiligkeit aufgezeigt habe. So ist es. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass die geistliche Vollkommenheit für diejenigen, die die Berufung zu philosophischen Studien haben, Leidenschaft für die Wahrheit heißt. Für uns Katholiken ist die Wahrheit nicht nur eine erkenntnistheoretische oder metaphysische Frage, sondern sie ist die zweite Person der Heiligsten Dreifaltigkeit, das Wort Gottes, das Fleisch geworden ist, um uns zu erlösen.

Und nun, da wir an diesem Punkt angelangt sind, können wir die Schlussfolgerungen ableiten, um die speziellen Fragen zu beantworten, die Du mir in Deinem Brief vorgeschlagen hast.

Das intellektuelle Leben ist eng mit dem geistlichen Leben verbunden und hängt von ihm ab

Die erste ist, dass es keinen Unterschied zwischen Deinem geistlichen Leben und Deinem intellektuellen Leben geben darf. Da Du sagst, dass Du in allem den Willen Gottes tun willst, und du glaubst, dass du eine Berufung für philosophische Studien hast, dann mach dir keine Sorgen über die Zukunft oder darüber, wie du deinen Lebensunterhalt verdienen wirst: Erfülle deine Pflichten gewissenhaft und hoffe auf die Vorsehung. Hab Vertrauen, Gott vergisst diejenigen nicht, die ihm dienen.

Aber Er prüft normalerweise das Vertrauen seiner Diener. Wenn Dir dies widerfährt, fühle Dich nicht im Stich gelassen: Dies sind die normalen Wege der Vorsehung. Wenn alles verloren oder gefährdet scheint, kommt die Lösung. Erwarte aber keine endgültigen Lösungen. Es wird immer ein gewisser Spielraum für Unsicherheit und Risiko bleiben. Das ist auch notwendig, denn Gott will, dass wir nur auf ihn vertrauen und nicht auf menschliche Machenschaften.

Andererseits dürfen wir die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass wir in dieser Welt im Exil leben und dass das gegenwärtige Leben provisorisch und unsicher ist. Es gibt also keine endgültigen Situationen auf dieser Erde, und wir sollten sie auch nicht anstreben. Wir müssen aus dem Glauben leben, und der Glaube ist notwendigerweise verborgen, da sein Gegenstand für die natürliche Vernunft unsichtbar und unzugänglich ist. Der heilige Petrus, der auf dem stürmischen Meer wandelte, ist das Bild für das christliche Leben. Ich weiß, dass dieser Weg schwierig ist. Es ist der schmale Weg des Heils, den unser Herr aufgezeigt hat. Es gibt keinen anderen.

Vermeidung einer Trennung zwischen Denken und Leben

Zweitens musst Du, was Dein Studium betrifft, sorgfältig jede Trennung zwischen Denken und Leben vermeiden. Die Philosophie kann nicht wie jemand behandelt werden, der ein geometrisches Theorem löst. Mit anderen Worten: Der Philosoph kann sich nicht bequem „außerhalb“ der Philosophie positionieren und sie mit Eleganz und Distanz aufbauen. Im Gegenteil, er, sein Leben, sein Schicksal, das Schicksal der Menschheit, sind in den Verlauf der philosophischen Fragen verwickelt. Der Philosoph selbst muss das erste philosophische Problem sein, um das es geht, denn durch sein Wesen aus Fleisch und Blut steht der Philosoph mit seinen Füßen in der Wirklichkeit.

Daher muss der Philosoph nicht nur über eine scharfe und entwickelte Intelligenz verfügen, sondern es ist unabdingbar, dass er eine reiche, kraftvolle und starke Persönlichkeit hat, in der die ganze Wirklichkeit weithin widerhallen kann. Um diese Stärke und Tiefe der Persönlichkeit zu erreichen, scheint es mir nützlich zu sein, dass Du neben den eigentlichen philosophischen Studien, über die ich später sprechen werde, Deinen Geist im Kontakt mit den großen Werken kultivierst, in denen bestimmte grundlegende Eigenschaften der menschlichen Seele zum Ausdruck kommen und deren häufiger Besuch eine unübertreffliche Erweiterung des Blicks auf alle Probleme bewirkt. Virgil, Dante, Shakespeare, die französischen Klassiker, sind in diesem Sinne zu verstehen. Nicht, dass sie untadelig wären, wohlgemerkt. Aber in ihnen allen fließt der herrliche Atem, der den Menschen groß macht.

Ich sage auch nicht, dass Du solche Werke systematisch studieren solltest. Weit gefehlt. Es geht nicht darum, zu studieren, eine Aufgabe zu erfüllen, sondern zu genießen, zu verkosten. Wähle unter ihnen diejenige aus, die Dir am besten gefallen. Du kannst auch variieren, indem Du mal bei einer Passage des einen, mal bei einer Passage des anderen Textes eine Pause einlegst. Die Freiheit ist vollständig. Wichtig ist es, dass sie im Original gelesen werden.

Es ist nicht nur die Lektüre großer literarischer Werke, die zum angestrebten Ziel führt, sondern auch die Betrachtung großer Gemälde und das Hören der Musik großer Meister wie Bach oder Händel. Bei alledem muss jedoch jeder seiner eigenen Neigung folgen, und ich möchte hier eher vorschlagen als beeinflussen.

Der hl. Thomas ist klarer als viele seiner Kommentatoren

Um nun zu Deinen Studien zu kommen, muss ich sagen, dass ich die Unzufriedenheit und Verwirrung, die einige zeitgenössische Autoren, die sich als Thomisten ausgeben, bei Dir hervorgerufen haben, voll und ganz verstehe. Diese Autoren sind weder echte Philosophen noch Thomisten, und das Beste, was Du tun kannst, ist, sie vorerst beiseite zu lassen. Sie können Deinen Verstand nur verwirren und Dich auf gefährliche Pfade führen.

Was Maritain betrifft, so ist er nur ein Vulgärwissenschaftler mit literarischen Qualitäten, aber ohne wissenschaftliche Seriosität. Diejenigen, die ihm folgen, sind oberflächliche Mentalitäten, die sich von seinen lyrisch-metaphysischen Formeln befriedigen und einlullen lassen, die einer genaueren Analyse nicht standhalten, weil sie bald die Ungenauigkeiten, Zweifel und Zweideutigkeiten offenbaren, mit denen sie beladen sind. Als ich in Deinem Alter war, gestehe ich, dass ich mich verführen ließ, weil sie meine Empfindsamkeit anregten. Aber Gott schenkte mir die Gnade, rechtzeitig zu erkennen, welches Gift sie enthielten.

Wenn man mit den wirklichen Philosophen in Berührung kommt, schämt man sich für das müßige, inkonsequente, alberne und anmaßende Geschwätz gewisser pseudothomistischer Philosophen unserer Tage, die nichts anderes tun, als den Thomismus zu entstellen, indem sie ihn an die neuesten Moden anpassen (die sie nicht einmal verstehen), während sie die tiefsten Gedanken des heiligen Thomas mit der offenkundigsten Inkompetenz übersehen.

Gehe direkt zur Quelle. Versuche, dich mit den Texten des heiligen Thomas vertraut zu machen. Keine Angst, der Doctor Angelicus ist klarer als nicht wenige seiner Kommentatoren. Alles hängt davon ab, sich an seinen Stil und vor allem an seine Disziplin zu gewöhnen. Dies wird jedoch nicht schwierig sein, vorausgesetzt, wir haben Einsatz und Demut.

Für den Anfang empfehle ich Dir die Prima aus der Summa und das De Veritate. Lasse in der Prima die Fragen 2, 23 und 24 weg. Was das De Veritate betrifft, so gehe vorerst nicht über Frage 3 hinaus. Beginne nicht mit einem systematischen Studium, sondern tue das, was ich in Bezug auf die klassischen Werke empfohlen habe. Denke daran, dass es noch nicht darum geht, den heiligen Thomas zu lernen, sondern mit ihm vertraut zu werden. Wenn also ein Text Deiner Intelligenz einen größeren Widerstand entgegensetzt, bestehe nicht darauf, sondern suche nach einem anderen, der einfacher ist.

Und nun möchte ich eine noch wichtigere Feststellung machen: Meditation und Reflexion sind mehr wert als Lesen. Versuche also, die Dinge so weit wie möglich selbst zu lösen, anstatt nach vorgefertigten Lösungen zu suchen. Halte Dich vor allem ausschließlich an die Texte des heiligen Thomas und lese nicht die Erläuterungen am Ende der Seite. Wenn Du Dich auf diese Weise an den Geist des heiligen Thomas gewöhnt hast, können wir an etwas anderes denken.

Authentisches geistliches Leben: die einzige Nahrung der Intelligenz

Schließlich kommen wir zur letzten Schlussfolgerung, die von größtem Gewicht ist. Der wahre Philosoph ist nur möglich, wenn er sein Denken und seine Persönlichkeit von einem authentischen spirituellen Leben nährt. Mir scheint, dass die beste Grundlage immer noch die Exerzitien des heiligen Ignatius sind, mit der natürlichen Ergänzung der Nachfolge Christi. Gemäß der Orientierung, die ich meinen Vorschlägen gegeben habe, solltest Du vorzugsweise nur Originaltexte suchen, und zwar nur die Texte, keine Kommentare. Da die katholische Frömmigkeit grundsätzlich marianisch inspiriert ist, solltest Du stets die hervorragenden Werke des heiligen Ludwig Maria Grignion von Montfort zur Hand haben, und zwar möglichst alle.

Der Teufel fischt in den trüben Gewässern der Nervosität

Ich denke also, dass ich die Schwierigkeiten, die Du mir in Deinem Brief dargelegt hast, nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet habe, nachdem ich Gott um das Licht für eine so verantwortungsvolle Aufgabe gebeten habe. Du wirst in dieser meiner Antwort sicherlich viele Mängel finden: das ist der Teil des Menschen. Aber Gott wird die Unzulänglichkeiten ausgleichen, wenn man sich vertrauensvoll an ihn wendet.

Sei zunächst einmal ruhig und gelassen. Ich glaube, in Deinem Brief eine gewisse Aufregung erkannt zu haben. Versuche, Dich nicht aufzuregen. Die Nervosität ist das trübe Gewässer, in dem der Teufel fischt, und er ist ein Meister darin, die Nerven zu reizen und das Gewissen zu quälen, indem er durch Einbildungen, Einflüsterungen, Anstiftungen, aber auch durch direkte Einwirkung auf den Körper, in welchem er körperliche Empfindungen wie Unbehagen, Angst, Widerwillen, Herzklopfen und anderes hervorruft. Lasse Dich von all dem nicht beeindrucken. Schau geradeaus, zu den Herzen Jesu und Mariens, und gehe zuversichtlich über die stürmischen Wellen.

Und hier stehen wir, meine Freunde und ich, zu Deiner Verfügung für alles, was Du brauchst. Mache keine Umstände. Und vergesse mich nicht in Deinen Gebeten.

Dein in Jesus und Maria,

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Aus dem Portugiesischen übersetzt mit Hilfe von Deel-Übersetzer (kostenlose Version) von  „Conselhos sobre vida intelectual

Diese deutsche Fassung „Leidenschaft für die Wahrheit“ erschien erstmals in www.p-c-o.blogspot.com

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