Kommentar zum „berühmten“ Psalm De profundis

Plinio Corrêa de Oliveira

 

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Es ist das Gebet der Unschuldigen, die auf dieser Erde leiden, und der Schuldigen, die im Fegefeuer leiden

Es ist interessant, dass der Psalm De profundis (129) von der Kirche als für die Seelen im Fegefeuer angemessen gilt, denn auch die Seelen im Fegefeuer befinden sich in dieser Situation. Und das Singen des Requiems und des De profundis ist gleichwertig angebracht für die Seelen im Fegefeuer und sehr schön. Er ist der Psalm des Betrübten Unschuldigen dieser Erde, und des Leidenden Schuldigen der anderen Welt, der Seelen im Fegefeuer. Alle Bußpsalmen sind auch angebracht für die Seelen im Fegefeuer, aber das De Profundis hat etwas Besonderes.

Der Text des Psalms lautet:

„Aus der Tiefe rufe ich, Herr, zu dir, höre, o Herr, meine Stimme.

„Lass Deine Ohren achten auf die Stimme meines Rufens und Flehens.“

Diese beiden Verse bilden ein einziges Ganzes. Deshalb lässt sich „De profundis“ meines Erachtens nicht gut mit „aus der Tiefe“ übersetzen. Aber dieses Profundis, hier ist Plural, bedeutet tatsächlich: „aus den Tiefen“. Aus den tiefsten Tiefen. Oder das heißt, aus den schwärzesten Bedrängnissen, aus den Tiefen der schlimmsten Sünden rufe ich zu dir, o Herr.

Nun aber ist Gott im höchsten Himmel, am entgegengesetzten Ende des Tiefsten. Dann ist Er auch der Heilige, in Bezug auf den Sünder ist Er das entgegengesetzte Extrem. Dann kommt die Befürchtung. Wird er meine Stimme hören? Dann kommt eine Lösung, die wie folgt lautet: „Herr, höre meine Stimme“, es ist die Angst, nicht gehört zu werden.

Dann beginnt eine erste sich wiederholende Bitte, und der Akt des Vertrauens in die Barmherzigkeit. Da ich weiß, dass meine Stimme aus dieser Tiefe nicht gehört werden kann, bitte ich zunächst, meine Stimme zu hören. Ich bin dermaßen elendig, dass ich darum bitten muss, gehört zu werden. Aber hier ist es ein Akt des Vertrauens, das ein Zipfel der Barmherzigkeit ist, der immer in Reichweite meiner Hand ist, den ich heranziehen kann. Ich kann zumindest darum bitten, gehört zu werden, ein Zipfel der Barmherzigkeit ist immer in Reichweite eines Jeden, selbst des Elendsten, selbst des Betrübten in unvorstellbar verlorenen Zuständen, selbst der höchst verurteilten Seele im Fegefeuer. Aus dieser Tiefe heraus kann man etwas verlangen. „Herr, höre meine Stimme.“ Das ist das Erste.

Dann besteht er auf die Bitte: „Lass Deine Ohren achten auf mein Rufen und Flehen.“ Das ist die Vorstellung eines abgelenkten Gottes, der nicht aufpassen will, der so tut, als würde er nichts hören. Und von einem Gläubigen, von einem armen Ding, das weiß, dass Gott vorgibt, nicht zu hören, oder so tut als ob Er nicht hört, oder als ob er nicht zu hören scheint, aber im Grunde doch hört. So, dass Er, wenn Er angeschrieen wird, am Ende doch hört. Mit anderen Worten: Er möchte, dass wir darauf bestehen, und wenn wir mit Demut drängen, wird er uns erhören.

Das heißt, inmitten dieser Vorstellung einer gewaltigen Trennung zwischen Gott und dem Sünder, die ja wirklich existiert, gibt es inmitten dieser Vorstellung, am Ende auch die Vorstellung der Barmherzigkeit, die niemals zerbricht. Und die Vorstellung von einem Ohr, dass zumindest das hört, wenn man sagt: Mögest Du bitte hören.

Dieses Spiel von Licht und Schatten, das hier auf pathetische Weise zum Ausdruck kommt, ist sehr schön und weist auf den Sünder hin, der die Bosheit seiner Sünde kennt und sie demütig anerkennt. Und der sich vor Gott stellt und Ihm die Sünde sagt, die er begangen hat: „Ich habe es getan“, und fertig!

Das ist das Gebet des Zöllners: er schlägt sich an die Brust, er traut sich nicht, in die Nähe des Altars zu gehen, hat aber Vertrauen in Gott, und geht gerechtfertigt. Während der Pharisäer, der seine Sünde nicht erkennen will, nähert sich und wendet sich nicht de profundis an Gott. Er nähert sich dem Altar und sagt: „Ich danke Dir, dass ich gut bin usw. usw.“ Das Gleichnis des Zöllners und des Pharisäers ist eine Verdeutlichung der Vorbedingung, die in all diesen Psalmen, aber besonders in diesem hier, wo es darum geht, von Gott gehört zu werden.

Dann geht es weiter. Jetzt ein Argument. Es ist wichtig, dass das alles sehr gut argumentiert ist. Es ist, wenn wir es wagen würden zu sagen, ein Gebet in unserem Stil, in dem alles begründet wird im Stil eines Anwalts.

Er gibt einen Grund an: Ich verstehe, dass Du wegen meiner Sünden mich nicht hören willst.

Ich muss sagen, dass ich das lateinische Wort „iniquitatem“ („si iniquitatem observaveris…“) – Ungerechtigkeit – für schön halte, um das Böse auszudrücken, das der Mensch tut. Es ist schlimmer als die Sünde, als alles andere, es ist die Sünde, vom Klang des Wortes her würde ich fast sagen Aufgrund der lautmalerischen Natur des Wortes würde man sagen, dass „iniqutatem“ mit ihrem Klang das Wesen der Bosheit ausdrückt, die die begangene Sünde hatte.

Das Argument ist also folgendes: Herr, ich weiß, dass Du mich wegen meiner Sünden nicht hören willst, aber ich habe ein Argument, um Dich zu bewegen, und das Argument ist: „Herr, wenn Du der Sünden gedenken wolltest, wer würde dann noch bestehen?“ Das heißt, ich weiß, dass Du niemandem gegenüber so handeln wirst, weil Du nicht willst, dass jemand verloren geht. Und nur, indem Du der Sünden nicht gedenken willst, auf alle hörst, doch wenn Du auf alle hörst, so höre auch auf den Letzten, der Teil dieser Allen ist, der einer dieser Allen ist, der tatsächlich im Tiefsten steckt, … usw., doch er ist ein Teil dieser Menschen, die Du selbst retten möchtest. Und da Du der Retter bist, höre auch mich.

Das Prinzip ist folgendes. Wenn Du niemanden mit Gerechtigkeit um Gerechtigkeit behandelst, noch Auge um Auge, noch Zahn um Zahn, dann breche diesen Punkt über die Gerechtigkeit hinaus zu meinen Gunsten und höre auch mich, der erkennt, dass ich der elendste bin. Ich weiß nicht, ob ich die bewundernswerte Seelenschönheit dieser Haltung deutlich machen kann, all die Demut, die sie mit sich bringt, aber hinter all der Demut steckt die Anerkennung Gottes als Vater und sogar als Mutter, nicht wahr? Und wie diese Art des Betens im Neuen Testament noch mehr Realität hat als im Alten. Und in der Ära des Königreichs Mariens mehr als vor der Ära des Königreichs Mariens, nicht war? Denn Gott zeigt sich den Seelen immer mehr auf diese Weise, je weiter die Geschichte voranschreitet, je mehr Zeit vergeht, je mehr die Revolution voranschreitet, die Gegenrevolution entsteht, desto mehr zeigt sich Gott auf diese Weise.

Dann geht es weiter. („Wolltest Du, Herr, der Sünden gedenken – Herr, wer würde bestehen?“) Die zweimalige Anrufung „Herr, Herr“ ist wunderschön. Man nennt ihn „Herr“, aber gleichzeitig verwandelt sich dieser Herr in etwas, das tief im Inneren „Vater“, „mein Vater“, „mein Vater“ bedeutet, nicht wahr? Und es geht weiter. Aber dann würde niemand bestehen…, „aber die Sünden finden Vergebung bei Dir, dass man in Ehrfurcht Dir diene.“ „Ich vertraue auf den Herrn, meine Seele vertraut auf sein Wort.“ In dir ist Barmherzigkeit zu finden und aufgrund deines Gesetzes habe ich mein Vertrauen auf dich gesetzt, Herr.

Das heißt: Herr, Du bist der Sitz der Milde, die Milde schlechthin, die personifizierte Milde bist Du, deshalb wende ich mich in diesem Wissen an Dich und vertraue Dir, denn Du selbst hast mir geboten, bei jeder Gelegenheit zu vertrauen. Hier ist etwas Pathetisches, nicht wahr? Sag nicht, dass es Kühnheit ist, denn was Kühnheit ist, ist in Wirklichkeit Gehorsam. Dein Gesetz hat es mir geboten, dass ich jederzeit auf Dich vertrauen sollte, es hat jedem befohlen, sogar mir, sogar diesem letzten Elenden, der im Tiefsten steckt. Aber niemand entkommt der Macht Deines Gesetzes, egal wie tief er gefallen ist, auch ich, der ich Deinem Gesetz gehorche und auf Dich vertraue, hier bin ich.

Das ist von einer Logik, ich glaube, dass ein Anwalt sich keine schöneren Argumente vorstellen könnte. Vom letzten Unglücklichen zu einem großartigen, unantastbar vollkommenen Gott, ich könnte mir kein schöneres Argument als dieses vorstellen. Ich denke, es ist eine großartige Sache.

Nun, dann fährt er fort: „Ich vertrau auf den Herrn, meine Seele vertraut auf sein Wort.“

Hier ist es etwas anspruchsvoller. Der Sünder sagt, es ist nicht nur Dein Gesetz, sondern Deine Ehre, Wort ist Wort, Du hast es versichert, ich vertraue auf Dein Wort, widerspreche mir nicht. Es hat sogar eine heilige Kühnheit, eine wunderschöne Kühnheit, die im Wesentlichen ein Akt des Vertrauens in die Wahrhaftigkeit Gottes ist. Er bestreitet nie, was er gesagt hat. Und man beachte die Kraft der Synthese, mit der dies zum Ausdruck kommt. Mit einem einzigen Wort ist alles gesagt, alles ist gedacht. Aber es ist kein kalter Gedanke, aber ein Gedanke, den wir sprudelnd fühlen, tatsächlich ist hier eine große Seele, kraftvoll, unermesslich. Die trotz ihres Elends sich zu Gott in einer Haltung erhebt, die trotz all dem Sumpf, in dem sie steckt, etwas Riesiges an sich hat. Es ist aber die große Seele, die sich klein macht und sich bis zum letzten Punkt demütigt.

Dann geht es weiter:

„Meine Seele harrt auf den Herrn, mehr als die Wächter aufs Morgenrot. Mehr als die Wächter aufs Morgenrot soll Israel harren des Herrn.“

Das heißt, alle Juden, das ganze auserwählte Volk, unter dem auch ich bin, vom Morgen des Aufstehens bis zur Nacht, wenn wir einschlafen, ist unser Leben ein ständiger Akt der Hoffnung auf Gott, Gott wird uns hören, Gott wird uns helfen, Gott wird uns aus der Schwierigkeit herausführen, Hoffnung, beständiges und kindliches Vertrauen auf Gott, des auserwählten Volkes und meines als Mitglied des auserwählten Volkes. Das heißt, wenn das auserwählte Volk diese Sünden begangen hat, muss es auch auf Gott warten. Wenn wir denken, dass diese Menschen das Versprechen der Bekehrung haben, verstehen wir, was an all diesem prophetisch ist. Dann fährt er fort:

„Denn bei dem Herrn ist Barmherzigkeit, und reiche Erlösung bei Ihm.“

Das heißt, er ist barmherzig und das Lösegeld, das er gibt, ist reichlich. Es ist so reichlich, dass es bis auf den Grund reicht, es erreicht mich in meinem Sumpf, in meinem Verrat, in meinem Schmutz, in dem Bösen, das ich mir selbst zugefügt habe, mea culpa, mea culpa, mea maxima culpa. So, das reicht bis dahin und auch für mich. Keine Tür ist für niemand verschlossen und Er selbst wird Israel von all seinen Sünden erlösen.

Das heißt, ich werde es nicht in mir selbst finden, um mich selbst zu erlösen, aber es ist Gott, der mich retten wird, Er wird mich von dem Misthaufen holen, auf dem ich bin und Er wird mich aufrichten, egal wie schlecht ich bin, das ist Gott.

Wir sehen, dass im Rückblick alles doch sehr prophetisch ist. Diese reiche Erlösung und dann diese Barmherzigkeit. Und die Bestätigung, dass Israel von allen Ungerechtigkeiten erlöst wird.

Sehr treffend schließt die Kirche dann (wie üblich) mit dem „Ehre sei dem Vater, dem Sohn und dem Heiligen Geist“. Es ist der letzte, natürliche Kommentar zu etwas so Großartigem.

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Aus dem Portugiesischen „Kommentare zum Psalm 129 „De Profundis“ in einer Versammlung am 28. Februar 1966.

Deutsch erstmals in www.p-c-o.blogspot.com

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