Plinio Corrêa de Oliveira

 

Toleranz, eine gefährliche Tugend

 

 

 

 

 

 

 

 

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Das Ergebnis der Religionskriege im Frankreich des 16. Jahrhunderts war die Etablierung eines Systems der Toleranz. Heinrich IV., der hugenottische Anwärter auf den französischen Thron, konvertierte zum Katholizismus und konnte die ihm von Rechts wegen zustehende Krone übernehmen. Er verkündete das Edikt von Nantes, das den Protestanten ein System der Toleranz gewährte. Die Maßnahme, die damals vielleicht notwendig war, erwies sich im Laufe der Zeit als schlecht. Es war das Verdienst Ludwigs XIII., den Stolz der Ketzer zu brechen, und das Verdienst Ludwigs XIV., das gefährliche Edikt aufzuheben. Auf dem Stich, einer Allegorie des Einzugs Heinrichs IV. in Paris, ein Werk von Rubens.

Dieses Bild, einem zeitgenössischen Druck entnommen, zeigt eine Prozession der Katholischen Liga im Jahr 1590. Um auf die protestantische Offensive zu reagieren, organisierten die französischen Katholiken vor der Bekehrung Heinrichs IV. diese hervorragende religiöse und kriegerische Vereinigung, die größtenteils von dem heiligen Papst Pius. V unterstützt wurde. Die Intoleranz der Liga gegenüber den Protestanten hatte Auswüchse, war aber von unschätzbarem Wert für die Sache der Heiligen Kirche.

In einem vorherigen Artikel haben wir uns mit dem Problem der Toleranz befasst und festgestellt, dass Toleranz und ihr Gegenteil, die Intoleranz, weder in sich gut noch schlecht sein können. Mit anderen Worten: Es gibt Fälle, in denen das Dulden eine Pflicht ist und das Nichtdulden ein Übel. Und es gibt andere Fälle, in denen im Gegenteil das Dulden ein Übel und das Nichtdulden eine Pflicht ist.

Wir werden auf diese Frage zurückkommen. Es geht nicht darum, die bereits dargelegten Grundprinzipien weiterzuentwickeln, sondern darum, die Risiken der Toleranz und die Vorsichtsmaßnahmen aufzuzeigen, mit denen sie praktiziert werden sollte.

Zunächst einmal sollten wir bedenken, dass jede Toleranz, so notwendig und legitim sie auch sein mag, mit Risiken verbunden ist. Die Toleranz besteht in der Tat darin, ein Übel zuzulassen, um ein größeres Übel zu vermeiden. Es ist jedoch so, dass das ungestrafte Fortbestehen des Bösen immer eine Gefahr darstellt. Denn das Böse hat notwendigerweise die Tendenz, böse Wirkungen hervorzurufen, und darüber hinaus hat es eine unbestreitbare Verführungskraft. So besteht die Gefahr, dass die Toleranz allein noch größere Übel mit sich bringt, als die, die sie eigentlich vermeiden wollte. Wir müssen die Augen für diesen Aspekt der Frage weit offen halten, denn um diesen Aspekt wird sich unsere gesamte Untersuchung drehen.

Um die Trockenheit einer ausschließlich doktrinären Darstellung zu vermeiden, betrachten wir die Situation eines Offiziers, der ernsthafte Symptome von Unruhe in seiner Truppe feststellt. Für ihn stellt sich ein Problem: a) Sollen die Verantwortlichen mit aller Härte der Justiz bestraft werden? b) Oder soll man ihnen mit Toleranz begegnen? Diese zweite Lösung würde das Feld für weitere Fragen öffnen. In welchem Umfang und auf welche Weise sollte Toleranz geübt werden? Mildere Strafen verhängen? Sie nicht anzuwenden, die Schuldigen anzurufen und ihnen liebevoll zu raten, ihr Verhalten zu ändern? So tun, als wüsste man nichts von der Situation? Vielleicht sollten wir mit der harmlosesten dieser Lösungen beginnen und die anderen nacheinander anwenden, wenn die milderen Verfahren nicht mehr ausreichen? Wann ist der richtige Zeitpunkt, ein Verfahren aufzugeben, um ein strengeres Verfahren zu übernehmen?

Diese Fragen beschäftigen unweigerlich die Gedanken vieler Offiziere, aber auch aller Personen, die im öffentlichen Leben mit Befehlen oder Verantwortung betraut sind, sofern sie sich ihrer Pflichten bewusst sind. Wer ist der Familienvater, der Abteilungsleiter, der Direktor eines Unternehmens, der Lehrer, die Führungskraft, der nicht schon tausendmal auf all diese Fragen gestoßen ist? Wie viele Übel haben sie vermieden, indem sie sie mit Klarsicht und Seelenstärke gelöst haben? Und wie viel mussten sie schon ertragen, weil sie für die Situationen, in denen sie sich befanden, nicht die richtige Lösung gefunden haben?

Der erste Schritt für diejenigen, die sich in einer solchen Situation befinden, ist eine Gewissenserforschung, um sich vor den Fallstricken zu warnen, die ihr persönliches Temperament für sie bereithält. 

Ich muss gestehen, dass ich im Laufe meines Lebens die größten Torheiten in dieser Angelegenheit erlebt habe. Und fast alle von ihnen führten zu einem Übermaß an Toleranz.

Die Übel unserer Zeit haben den alarmierenden Charakter angenommen, den sie gegenwärtig haben, weil es für sie eine allgemeine Sympathie gibt, an der auch diejenigen oft teilhaben, die sie bekämpfen.

Es gibt zum Beispiel die Gegner der Ehescheidung. Unter ihnen gibt es aber auch viele, die zwar gegen die Scheidung sind, aber ein übertrieben sentimentales Temperament haben. Infolgedessen sehen sie die Probleme, die sich aus der „Liebe“ ergeben, auf romantischer Art an. Angesichts der schwierigen Situation eines befreundeten Paares geschiedener Personen werden diese Scheidungsgegner es für übermenschlich, um nicht zu sagen unmenschlich halten, vom unschuldigen und unglücklichen Ehepartner zu verlangen, dass er die Möglichkeit „sein Leben neu einzurichten“, ablehne (d. h. seiner Seele durch die Sünde den Tod zu geben). Mündlich werden sie weiterhin „die Geste“ des Letzteren bedauern usw. usw. Aber wenn das Problem der Toleranz auftaucht, haben sie ein ganzes inneres Gefüge, um die extremste und abartigste Nachgiebigkeit zu rechtfertigen. So werden sie das Geschehen lässig kommentieren, sie werden die frisch-„Vermählten“ fürchten, sie werden sie besuchen usw. Mit anderen Worten, durch ihr Beispiel befürworten sie die Scheidung und gleichzeitig aber verurteilen sie sie durch das Wort. Es liegt auf der Hand, dass die Scheidung durch ein solches Verhalten von Tausenden oder Millionen von Scheidungsgegnern viel mehr zu gewinnen als zu verlieren hat.

Woher kommt dieser Vorsatz, das nagende Krebsgeschwür der Familie so ungelegen zu tolerieren? Das liegt daran, dass im Grunde in ihrem Inneren eine Scheidungsmentalität herrscht.

Aber bleiben wir nicht hierbei. Haben wir den Mut, die ganze Wahrheit zu sagen. Der moderne Mensch verabscheut die Askese. Ihm missfällt alles, was dem Willen den Mut abverlangt, den Sinnen „Nein“ zu sagen. Die Bremseigenschaft eines moralischen Prinzips ist ihm zuwider. Der tägliche Kampf gegen die Leidenschaften kommt ihm wie eine chinesische Folter vor.

Aus diesem Grund ist der moderne Mensch, selbst wenn er mit guten Prinzipien ausgestattet ist, nicht nur in Bezug auf Geschiedene übertrieben nachsichtig.

Es gibt ganze Legionen von Eltern und Lehrern, die genau aus diesem Grund ihren Kindern oder Schülern gegenüber übermäßig nachsichtig sind. Und der Refrain ist immer derselbe: armes Ding… Armes Kerlchen, weil er faul ist, die Mahnungen der Älteren schlecht annimmt, heimlich Süßigkeiten nascht, sich mit schlechten Freunden abgibt, in schlechte Kinos geht usw. Und weil er ein armer Kerl ist, kommt er selten in den Genuss einer harten Strafe. Es ist nicht nötig zu sagen, was eine solche Erziehung bewirkt. Die Ergebnisse sind für alle sichtbar. Es gibt Tausende, Millionen von moralischen Katastrophen, die durch übermäßige Toleranz verursacht werden. „Der Vater, der seine Rute schont, hasst seinen Sohn“, lehrt die Heilige Schrift (Spr 13,24). Aber wen interessiert das heute schon?

So ist es oft auch in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern einer bestimmten Art, da die ersteren, die ebenso areligiös sind wie die letzteren, das Gefühl haben, dass sie, wenn sie Arbeiter wären, ebenfalls revoltieren würden.

Und in allen Bereichen ließen sich die Beispiele vervielfältigen.

Diese Toleranz stützt sich natürlich auf alle möglichen Vorwände. Man übertreibt das Risiko eines energischen Vorgehens. Man überhöht die Möglichkeit, dass sich die Dinge von selbst regeln. Man schließt die Augen vor den Gefahren der Straffreiheit. Und so weiter.

Tatsächlich ließe sich all dies vermeiden, wenn die Person, die sich in der Alternative „tolerieren — nicht tolerieren“ befindet, in der Lage wäre, sich selbst in Demut zu misstrauen.

Habe ich uneingestandene Sympathien für dieses Übel? Habe ich Angst vor dem Kampf, den die Intoleranz mit sich bringen würde? Bin ich zu faul für die Anstrengungen, die mir eine intolerante Haltung auferlegen würde? Finde ich in einer konformistischen Haltung irgendwelche persönlichen Vorteile?

Erst nach einer solchen Gewissensprüfung kann sich der Mensch der schwierigen Entscheidung stellen: tolerieren oder nicht tolerieren. Denn ohne eine solche Prüfung kann niemand sicher sein, dass er in Bezug auf sich selbst die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen trifft, um nicht durch übermäßige Toleranz zu sündigen.

*  *  *

Im Allgemeinen gibt es einen sehr guten Ratschlag für diejenigen, die sich in dieser Alternative befinden. Jeder Mensch hat böse Neigungen, die in ihm besonders verwurzelt sind. Der eine ist apathisch, der andere gewalttätig, ein anderer ehrgeizig, ein anderer skeptisch usw. Immer wenn die Toleranz den Sieg über das Böse in uns fordert, brauchen wir keine Angst zu haben, durch Übermaß an Toleranz zu sündigen. Aber immer wenn es unseren bösen Neigungen schmeichelt, sollten wir die Augen öffnen, denn die Gefahr ist groß. Wenn wir also apathisch sind, sündigen wir nicht durch zu viel Toleranz gegenüber einem Freund, der uns zum Handeln drängt: Nichts ist schleimiger, flatterhafter oder cholerischer als der Faulpelz, der in seiner Trägheit gebremst wird. Wenn wir jähzornig sind, laufen wir nicht Gefahr, unsere Toleranz gegenüber denen, die uns schmähen, zu übertreiben. Wenn wir sinnlich sind, werden wir wahrscheinlich nicht zu streng mit Ärmeln und Ausschnitten sein. Und wenn wir einen unterwürfigen Geist gegenüber der öffentlichen Meinung haben, werden wir wohl kaum in Beschimpfungen gegen die Fehler unseres Jahrhunderts zu weit gehen.

Übertolerante Katholiken argumentieren nur mit ihrem Herzen

Ein weiterer hervorragender Ratschlag, um die Sünde der übermäßigen Toleranz zu vermeiden, besteht darin, dass wir uns viel mehr vor unserer Schwäche in diesem Punkt fürchten, wenn die Rechte anderer auf dem Spiel stehen, als wenn unsere eigenen Rechte auf dem Spiel stehen.

Normalerweise sind wir viel „verständnisvoller“, wenn es um andere geht. Wir verzeihen leichter dem Dieb, der unseren Nachbarn bestohlen hat, als dem, der in unser eigenes Haus eingebrochen ist. Und es ist wahrscheinlicher, dass wir empfehlen, Beleidigungen zu vergessen, als dass wir selbst diesen Akt der Tugend praktizieren.

Und an dieser Stelle sollten wir die schmerzliche Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass Gott für uns nach den ersten Impulsen unseres Egoismus oft ein Dritter sein würde.

So sind wir viel eher geneigt, ein Vergehen an der Kirche zu übersehen als eine Verletzung an uns selbst; die Verletzung eines Rechts Gottes eher zu ertragen als eine Verletzung unseres eigenen Interesses.

Im Allgemeinen ist dies der Geisteszustand von hypertoleranten Katholiken. Ihre Sprache ist phantasievoll, weich und gefühlvoll. Sie wissen nur, wie man mit dem Herzen argumentiert - wenn man das überhaupt Argumente nennen kann. Gegenüber den Feinden der Kirche sind sie voller Illusionen, Aufmerksamkeiten, Unterwürfigkeit und Zärtlichkeiten.

Aber sie nehmen schrecklichen Anstoß daran, wenn ein eifriger Katholik sie darauf hinweist, dass sie die Rechte Gottes opfern. Und anstatt lehrhaft zu argumentieren, gehen sie auf die persönliche Ebene über: Denken sie, dass ich lauwarm bin? Dass ich nicht genau weiß, was ich zu tun habe? Zweifeln sie an meiner Weisheit? An Meinen Mut? Oh, nein, das kann ich nicht ertragen. Und seine Brust keucht, sein Gesicht wird rot, seine Augen füllen sich mit Tränen, seine Stimme nimmt einen besonderen Tonfall an. Vorsicht! Dieser Hypertolerante befindet sich in einer Krise der Intoleranz. Jede Gewalt, jede Ungerechtigkeit, jede Einseitigkeit ist von ihm zu befürchten. Denn seine Fassadentoleranz bestand nur, wenn es um nichtige und zweitrangige Werte wie die Orthodoxie, die Reinheit des Glaubens, die Rechte der Heiligen Kirche ging. Doch als seine kleine Person die Szene betritt, ändert sich alles. Und hier ist er bereit, jeden, der ihn auch noch so leicht kränkt, in die Hölle zu stürzen, mit einer Entrüstung, die der des heiligen Michael gegen den Teufel gleicht: „Wer ist wie ich?“

* * *

Wir werden in einem weiteren Artikel sehen, wie Toleranz in Fällen, in denen sie gerecht ist, praktiziert werden sollte.

Bild 1: By Peter Paul Rubens - MAH9bvM16Bakxw at Google Arts & Culture, Public Domain, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=13518227

Bild 2: Par Auteur inconnu — http://parismuseescollections.paris.fr/fr/musee-carnavalet/oeuvres/procession-de-la-ligue-sur-la-place-de-greve#infos-principales, Domaine public, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=6802822

Übersetzt aus dem Portugiesischen mit DeepL.com/Translator (kostenlose Version) von „A tolerância, virtude perigosa“ in „Catolicismo“, Nr. 78, Juni 1957

© Nachdruck oder Veröffentlichung ist mit Quellenangabe dieses Blogs gestattet.

„Toleranz eine gefährliche Tugend?“ erschien erstmals in deutscher Sprache in www.p-c-o.blogspot.com


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